Lieber Gerd, du feierst heute deinen 70. Geburtstag. Was bedeutet Europa für dich?
Alles – nach meiner Familie. Dort bin ich so geprägt worden, wie ich mich heute fühle – als Bürger Europas in meiner Heimat Lübeck. Bereichert durch den Austausch unterschiedlicher Kulturen. Und die Erfahrung , dass Politik aus dem Schützengraben nichts Vernünftiges zustande bringt.
Die Europäische Union ist unsere Lebensversicherung als Deutsche, als Franzosen, Italiener etc. – das hat sich in meiner DNA tief verankert, seit ich als damals jüngster Abgeordneter mit 29 Jahren ins Europäische Parlament eingezogen bin.

Du warst einer der Europaabgeordneten der ersten Stunde (1979), Spitzenkandidat der SPD zur Europawahl 1989 und Europaminister in Schleswig-Holstein von 1992 bis 2000. Was waren in dieser Zeit zentrale Herausforderungen, die dir gut im Gedächtnis geblieben sind?
Im Europäischen Parlament war es die Aufgabe, die Rolle des Parlaments zu stärken – übrigens ist das heute der allgemeinen Wahrnehmung zum Trotz weitgehend erreicht. Als Spitzenkandidat war es natürlich ein gutes Ergebnis – die damaligen Zahlen wären heute ein Weltwunder – und die Aufgabe, die Medienbarriere zu überwinden; da war viel später Martin Schulz deutlich erfolgreicher als ich.
Als Europaminister war es die Aufgabe, mit der Ostseepolitik eine Leitidee für das Land zu entwickeln, die auch zur Wahrnehmung Schleswig-Holsteins in Brüssel und im Ostseeraum führt. Das ist damals ziemlich gut gelungen.
Wie war es damals nach der ersten Europawahl im Parlament? Wie war die Zusammenarbeit mit Willy Brandt und anderen?
Es war vor allem aufregend für einen jungen Politiker. Mit Delors dessen damaliges Binnenmarktprojekt zu diskutieren, Jiri Pelikan, den früheren tschechischen Rundfunkchef aus der Zeit der Prager Frühlings kennenzulernen, der als italienischer Abgeordneter im Europäischen Parlament sass. Widerständler gegen die Nazis aus verschiedenen Nationen zu treffen, die als Kollegen und Kolleginnen erst wieder Vertrauen zu der neuen jungen Generation deutscher Politiker fassen mussten. Mit Georgio Napolitano, dem späteren italienischen Staatspräsidenten, einen Kommunisten zu treffen, der so gar nicht dem deutschen Bild des Kommunisten entsprach.
Und der vielsprachige Willy Brandt war die unumstrittene Autorität im Parlament – übrigens mit der Feststellung, Europa gehöre uns allen (den großen politischen Strömungen). Er hat sich um uns Junge gekümmert – so hat er dafür gesorgt, dass ich sofort stellvertretender Vorsitzender der SPD-Abgeordneten wurde.
Worin unterscheidet sich die Situation zur heutigen Zeit?
Wir waren Pioniere wo heute parlamentarische Routine überwiegt. Wir waren im viel kleineren Parlament aus wenigen Mitgliedstaaten eine verschworene Gemeinschaft, die heute so nicht mehr entstehen kann.
1989/90 bedeutete einen großen Umbruch für Europa. Worauf kam es damals an? Ist das noch aktuell?
Es kam zum einen darauf an, die mittel- und osteuropäischen Staaten an die Europäische Union heranzuführen – der vor allem später von Günter Verheugen beschrittene Weg einer schnellen Mitgliedschaft statt über das Konzept des Europäischen Wirtschaftsraums wurde von mir und anderen skeptisch gesehen. Ich glaube, dass wir Recht hatten.
Die andere große Aufgabe war, die Identität des Westens neu zu bestimmen. Was würde uns alle zusammenhalten, wenn es doch die Gegnerschaft zum Kommunismus nicht mehr sein konnte. Diese Frage wird bis heute nicht einmal ansatzweise diskutiert – höchstens, wenn es gegen Trump geht.
Warum ist eine Ostseeraumpolitik für Schleswig-Holstein heute noch so wichtig?
Weil Selbstbehauptung in einer sehr großen Europäischen Union nur über die großen regionalen Entwicklungsräume innerhalb der Europäischen Union funktioniert. Die Ostseeländer haben viele identische Interessen, die man gemeinsam zu Geltung bringen muss. Schleswig-Holstein hat dabei mal eine wichtige Rolle gespielt. Das ist leider verspielt worden. Übrigens spielte die Fehmarnbeltquerung in diesem Zusammenhang einmal der Rolle eines strategischen Projekts. Das scheint auch in der SPD weitgehend vergessen zu sein.
Was können wir von den skandinavischen Nachbarn wie Dänemark oder Schweden konkret lernen?
Den radikalen Pragmatismus bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme im Interesse der Bürgerinnen und Bürger. Wenn in Dänemark der bedauerliche Umzug in ein Pflegeheim bürokratisch in zwei Stunden abgewickelt ist, was bei uns zwei Monate dauert, dann stimmt etwas nicht. Auf sehr vielen Gebieten wie schnelles Internet, Infrastruktur etc sind die skandinavischen Staaten besser und wir stecken im föderalen Dschungel fest.
Müssen uns die Wahlerfolge rechtspopulistische rund –extremer Parteien in Europa Sorge machen?
Natürlich, weil sie die Axt an die Grundlage unseres freiheitlich-aufklärerischen Europa legen. Bei der Europawahl ist deshalb Gefahr im Verzuge, weil dort eine relativ kleine Gruppe reicht, um die Gestaltungsmehrheit des Parlaments zu brechen. Und dann Gute Nacht Europäische Union.
Was vertreten die Sozialdemokraten in Europa, was die andere (Grüne, Liberale und Christdemokraten) nicht tun?
Sicherlich das konsequente soziale Engagement. Aber man darf die Arbeit im Europäischen Parlament nicht mit der im nationalen Parlament verwechseln. Gestaltungsmehrheiten lassen sich nur über die Parteigrenzen hinweg gewinnen.
Wie ist dein Eindruck der heutigen Arbeit im Europäischen Parlament?
Trotz der großen Zahl der Abgeordneten und Länder gelingt es offenbar immer wieder, vernünftige Mehrheiten zu organisieren. Zuletzt zu besichtigen beim Urheberrecht, das ein politisches Zeichen war, dass die amerikanischen Datenmultis nicht machen können was sie wollen. Was leider auch Sozialdemokraten nicht davon abgehalten hat, sich an Googles Erzählung vom Ende der Freiheit im Internet zu beteiligen.
In Zeiten des Brexit überlagert Krisenintervention die europapolitische Debatte. Fehlt eine Zukunftsvision? Wie sollte die aussehen?
Man hört manchmal auch in unseren Kreisen, es fehle die Vision, Europa brauche einen „Neustart“. Diese Debatte kann nur scheitern, weil es dafür keine Bündnispartner gibt. Sie ist sehr deutsch. Und sie riskiert, das zu entwerten was wir erreicht haben. Diese Europäische Union ist sicherlich korrekturbedürftig. Aber sie ist gleichwohl die Realität gewordene Vision eines Europa, das so unendlich positiv entfernt ist von dem Europa vor 75 Jahren. Sie ist die Grundlage unserer Selbstbehauptung gegen die Gegner von außen – mit Trump an den Spitze – und die von innen. Sie zu bewahren und weiterzuentwickeln ist jetzt die vornehmste Aufgabe. Wenn das kaputtgeht, werden wir ganz bittere Zeiten erleben.
Was rät Gerd Walter seiner Partei für die Zukunft?
Dafür reicht der Platz hier nicht. Im Übrigen bin ich kein Freund öffentlicher Ratschläge.
Links
- SPD Geschichtswerkstatt: Gerd Walter